Frühchristlicher Gesang des Abendlands



Altchristlicher und gregorianischer Gesang

Unter dem Begriff „Gregorianik“ wird üblicherweise der gesamte lateinische einstimmige Gesang der katholischen Kirche zusammengefasst. So genannte „Gregorianik“-Bücher (das Graduale oder römische Messbücher) enthalten sowohl Stücke aus den ersten Jahrhunderten, die großen Kyrie des 11. Jahrhunderts wie auch die gebräuchlichsten Credo und Messen des 17. Jahrhunderts. Aus genauer und gelehrter Sicht jedoch bezeichnet man als „gregorianisch“ jene Sammlung von Gesängen, welche in den Manuskripten des ausgehenden 9., des 10. und 11. Jahrhunderts enthalten sind unter den Namen Antiphone, Cantatorium oder Graduale, in Neumen notiert sind und aus einer geografischen Region stammen, die Frankreich, die Schweiz und die benachbarten Gebiete West- und Süddeutschlands sowie Norditaliens umfasst.

Innerhalb des Repertoires ist man bestrebt einen Fundus älterer Stücke, welche vor dem neunten Jahrhundert datiert erachtet werden,  zu unterscheiden. Die Ungenauigkeit dieser Definitionen stammt von der Mehrdeutigkeit des Begriffs „gregorianischer Gesang“, der nicht dem Repertoire entspricht, das er bezeichnet sollte. Gelehrte versuchten diesen Gesang mit Papst Gregor dem Großen (er starb 604) und folglich mit den Kirchen der Stadt Rom zu verknüpfen. Aber diese Herkunft, welche Musikwissenschaftlern (Apel, Gastoué, Gevaert, Hourlier, Hucke, Huglo, Morin, Stäblein, Toloza…) viele Probleme bereitet hat, ist in Wirklichkeit reine Legende und wird von Zeitzeugen und Manuskripten widerlegt. Der Name des Papstes wurde von der so genannten gregorianischen „Restauration“ am Ende des 19. Jahrhunderts dieser Art von Gesängen auferlegt, aber der Begriff „Gregorianik“ verschleiert die vielschichtige Realität und die Tradition des Gesangs, die ihn ausmacht.

Es ist korrekter, wenn man viel allgemeiner vom hohen antiken, christlichen, abendländischen Gesang spricht. Dieser hat sich ausgehend vom 4. Jahrhundert auf Grund einer gebräuchlichen liturgischen Basis entwickelt (ursprünglich gab es jüdische, ägyptische, syrischen und speziell griechischen Einflüsse) und mit dem Aufblühen der christlichen, abendländischen Kultur, mit ihren vielfältigen Ausdrucksformen lateinischer Tradition, hat sich dieser Gesang, ebenso wie die liturgischen Bräuche, in mehreren eigenständigen Regionen, die untereinander in Verbindung standen, gleichzeitig entwickelt (wie zum Beispiel der gallische und der römische Brauch). Man unterscheidet im Westen prinzipiell folgende Liturgien: in Italien  die Süditaliens, Roms, Norditaliens (mit Mailand als Reichshauptstadt im 4. Jh.) und Aquiläas; die Nordafrikas (Karthago); diejenigen Spanien (Toledo); in Gallien die Aquitaniens, die der Provence (Narbonne, Marseille, Arles, Vienne),die von Lyon (Lyon, Autun), die Belgiens und Germaniens (Trier, auch eine frühere Hauptstadt des Kaiserreiches); die Großbritanniens und ab dem 6. Jahrhundert Irlands. Die Gesangstraditionen sind klar an die regionalen Liturgieformen gebunden. Demnach sind uns vier Gesangsrepertoires und -stile gut bekannt: jener aus Mailand, der auch Ambrosianisch genannt wird, der aus Rom, welcher auch bekannt ist unter Altrömischer Gesang, der Mozarabische (altspanisch und visigothisch), welcher leider noch immer unentzifferbar ist, und schließlich der Gallische Gesang aus dem Nordosten und dem Südwesten Galliens. Dieser letzt genannte basierte auf einer spezifisch karolingischen Tradition und umfasst all das, was heute ungenau Gregorianik genant wird. Die Liturgie war eine Mischung von Traditionen aus Rom (was die schriftliche Überlieferung und die Abfolge der Liturgie betrifft) und aus Gallien (was die mündliche Überlieferung und Gesang angeht). Sie wurde Ende des 8. und im Laufe des 9. Jahrhunderts unter Pippin dem Kleinen und speziell von Karl dem Großen entwickelt. Unter dem Einfluss des karolingischen Reiches und anschließend unter dem Einfluss der französischen Provinzen und des germanischen Kaiserreichs, hat diese Liturgie vom 9. bis zum 13. Jahrhundert alle
anderen verdrängt, eingeschlossen jene, die zu Rom gehörten, außer dem Ambrosianischen  Ritus aus Mailand (das definitive Ende der lokalen Traditionen fand im 19. und 20. Jahrhundert statt).

Mit der Kunst der Gotik wurde der antike Gesang, außer in einigen Klöstern, auf die Rolle des cantus planus zurückgedrängt, im Gegensatz zum mehrstimmigen Gesang, der aus einer volkstümlichen, weniger gelehrten Tradition entstand, obgleich er sich aber mit der Notenschrift weiterentwickelte. Die Renaissance führte einen eigenen Stil ein und der gregorianische Gesang wurde auf „Melodien“ reduziert, die keine Bedeutung mehr hatten. Den französischen Benediktinern des 19. Jahrhunderts verdanken wir den Versuch einer Rekonstruktion, die in der Herausgabe eines Graduales (Solesmes, 1883) seinen Niederschlag fand. Leider war die lebendige Gesangstradition verloren gegangen und mit ihr die Kenntnisse der antiken Tonleitern, der reinen Intonation, der Modalität im Sinne der antiken mündlichen Tradition und, seit langem schon, das Wissen um die heilige Kunst an sich (und nicht nur der religiösen Kunst, bei der religiöse Themen mit weltlichen Kunstmitteln behandelt werden).
 

 
Kunst und heiliger Gesang
Die Essenz des Repertoires ist der heilige Gesang, im Zusammenhang mit der Liturgie ist es die heilige Kunst schlechthin. Das ist eine Kunst, welche auf dem Göttlichen gründet und eine  echte Verbindung zum Göttlichen bewirken muss. Sie hat ihren Ursprung in der Erleuchtung des Bewusstseins im Angesicht des Göttlichen, denn bei der Betrachtung des einen Gottes offenbaren sich die wahren Rhythmen und Zahlen der Musik und des Tanzes (der Tanz wirkt dabei unmittelbar auf die Seele, wie Augustinus in seinem 6. Buch „De Musica“, zurückgreifend auf die Antike, ausführt). Und auf diesen Zahlen und Rhythmen, auf dem Zusammenklang, den Proportionen und Tempi, die aus der Kontemplation resultieren, basiert die heilige Kunst. Die göttlich inspirierten Bewegungen werden in der Liturgie von Architektur, Bild, Licht und Weihrauch repräsentiert und werden besonders vom Gesang über die Worte hinaus kraftvoll übertragen. Diese Bewegungen erwecken den göttlichen Teil der Seele, um sie mit dem Unsichtbaren in eine essenzielle Verbindung zu bringen. Denn der Gesang in der reinen Intonation – der durch die reinen Intervalle, die Vibrationen, und die Silben direkt auf den Körper und durch die Klangfarbe der Stimme direkt auf das tiefe Bewusstsein einwirkt – ist klangvoller Ausdruck eines psychophysischen Zustandes, den die Antike „Bewegungen der Seele“ nannte: und genau dem entspricht der Begriff „Modus“. Daher kann der Gesang solch ein psychophysischer Zustand übermitteln und hervorrufen und er hat im Besonderen die Kraft eine Umwandlung zu bewirken. Eine heutige Interpretation dieses Gesangs mit Anspruch auf Authentizität, muss in diesem antiken und fundamentalen Konzept „heiliger Musik“ wurzeln.
Zuzeiten, als dieser hohe Gesang solcherart verstanden und praktiziert wurde, verbreitete sich das Christentum unwiderstehlich durch das Wort der Liebe Christi, aber auch durch die Schönheit der Liturgien, in welche dieses Wort gehüllt war.
Seit nunmehr dreißig Jahren hat Iegor Reznikoff sich der Aufgabe, der Wiederherstellung des Antiken Christlichen Gesangs in diesem Sinne, angenommen.

Der große altchristliche Gesang und seine Interpretation
Die Interpretation des altchristlichen Gesangs basiert auf folgenden Kriterien:
a) Studium der neumennotierten Manuskripte des 9., 10. und 11. Jahrhunderts des abendländischen, altchristlichen Gesangs aus Rom, Gallien (so genannte Gregorianik), Mailand, Spanien …
b) Vertieftes Studium der Grundlagen der „Heiligen Kunst“ und der altchristlichen Liturgie
c) Aufmerksames Hören und konstantes Studium lebender, mit dem altchristlichen Gesang verwandter Tradition (christlicher Gesang des Orients; gelehrte spirituelle Musik aus der Türkei, dem Iran und Indien; aber auch einiger Relikte in den westlichen, ländlichen Gebieten)
d) Gesangspraxis mit dem Monochord, wie es in der Antike und im Hochmittelalter in den Gesangsschulen Verwendung fand, ein Instrument, das durch seine natürliche Resonanz ein Höchstmass an Genauigkeit erfordert
e) Praxis in der Akustik von Gebäuden, speziell von romanischen Kirchen

Diese Praxis erlaubt es, sich an die antike Präzision der Intervalle anzunähern und sie zu verstehen. Das sind die natürlichen Tonleiter mit ihren „ungleichen“ Tönen und die pythagoreische Tonleiter, die in der Antike und bis in die romanische Epoche hinein als Referenz diente. Man kann auch beginnen die Idee, den Begriff des „Modus“ zu verstehen. Dieser Begriff ist sinnlos, wenn nach den modernen westlichen Tonleitern, mit ihren fixen, wohltemperierten Intervallen, gesungen wird. Denn das ist ein Begriff, der mit den Gegebenheiten des psychophysischen Zustands und der klingenden Körperresonanz korrespondiert, Gegebenheiten, die charakteristisch  sind für jene Zustände, die die christliche Antike „Bewegungen der Seele“ nennt.
Es sollte auch erwähnt werden, dass das Repertoire der Graduales, etwa die großen Alleluias, Graduales und Offertorien, vor allem ein solistischen Repertoire ist.


  
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